Ein 900 Höhenmeter langer, gerader Eisschlauch, begrenzt durch zwei 1.000 Meter hohe Dolomitenfelswände mit einer Durchschnittsneigung von 45 bis 50 Grad. Als ich am ersten Oktoberwochenende durch Zufall die Meldung vom „anhaltenden Temperatursturz in Verbindung mit ertragreichem Niederschlag“ in den südlichen Dolomiten höre, rattert die imaginäre Wunschliste in meinem Kopf – und rastet bei einem lange gehegten und zweimal erfolglos versuchten Projekt ein: Cima Tosa, Canalone Neri, Skibefahrung.
Das erste Mal in der Saison auf Ski und dann gleich eine 900 Höhenmeter lange Rinne? Auch wenn noch genug Kletterprojekte aus dem Sommer offen sind, ist Fabi und mir sofort klar, dass wir die Verhältnisse für das steile Couloir in der Nordwand der Cima Tosa nutzen müssen. Das passt eher zu uns, als bis auf das Frühjahr zu warten und zu hoffen, noch einmal eine Chance zu bekommen. Bevor wir Richtung Brenta-Gruppe abrauschen, wird der Bus mit allem vollgestopft, was wir in der Eile finden und brauchen können.
Cima Tosa: Der frühe Vogel fängt den Wurm
Vier Stunden Fahrt und zwei Stunden Schlaf später brechen wir um halb Drei Uhr Morgens in Madonna di Campiglio über den Hüttenzustieg auf und freuen uns über die noch laufende Sommersaison. So können wir die ersten Kilometer durch die offene Schranke zum Rifugio Valesinella mit dem Auto fahren. Ab dann heißt es schleppen. Die beiden weiteren Stunden bis zum Rifugio Brentei am Fuß der Rinne zerren mit Eis- und Skiausrüstung am Rücken nicht nur ordentlich an den Nerven, sondern auch an den Schultern. Der Wechsel von Berg- auf Tourenskimodus lässt uns dafür auf den eineinhalb Stunden zum Rinneneinstieg förmlich schweben.
Der erste Kontakt mit der Canalone Neri in der Morgendämmerung fühlt sich gut an: Viel Neuschnee, der sich schon ganz gut gesetzt hat. Es ist kalt und in den schattigen Felswänden wächst bereits fleißig das Eis. Die Zeichen stehen gut für uns, aber wer weiß wie der steile Eiswulst in der Mitte und der obere, windausgesetztere Teil der Rinne aussehen?
In steilen Spitzkehren können wir fast bis zum Eisteil mit den Skiern aufsteigen. Auf den letzten Meter wird die Schneeauflage teilweise so dünn, dass wir mit der Skikante auf dem blanken Eis stehen. Jetzt wird der Rücken wieder mit den Skiern belastet und die Steigeisen angeschnallt. Über die etwa zwei Seillängen lange und 60 Grad steile Kernstelle der Canalone Neri klettern wir seilfrei mit den Eisgeräten, um schneller zu sein.
Canalone Neri: Im Aufstieg in erster Linie extrem anstrengend
Oben angekommen versinken wir bis zur Hüfte im Tiefschnee: „Schön, nicht ganz ungefährlich zu fahren und im Aufstieg in erster Linie extrem anstrengend“, denken wir uns beide. Abwechselnd spurend wühlen wir uns noch vier weitere Stunden bis zum Gipfel. Der Ausstieg aus der immer schattigen Nordrinne und der Rückblick auf insgesamt neun Stunden Schufterei lassen uns die Sonnenstrahlen am Gipfel der Cima Tosa und den unglaublichen Ausblick über die Brenta-Gruppe noch viel besser genießen. Andererseits ist es schon recht spät und auch in der Rinne wird es wärmer – viel Zeit zum Pausieren haben wir nicht.
Die Einfahrt in die Canalone Neri präsentiert uns ungeschönt die 900 Höhenmeter bis zum Wandfuß. Ein Tiefblick, der ersten Schwünge definitiv noch zaghafter macht, als sie sonst schon wären. Aber, unser Timing für die Abfahrt ist perfekt gewählt: Nur leichter Sluff beim Umspringen, nicht zu viel Bewegung im Hang. Jetzt können wir es auch mal ein bisschen laufen lassen und den Pulverschnee genießen – bis zum Eisabbruch zumindest. Der Bau einer Eissanduhr zum Abseilen über die im Aufstieg ausgespähte, günstigste Stelle fordert noch einmal kurze Konzentration. In zehn Minuten ist die Sache erledigt und zum Abschluss unserer Saisonstart-Skitour warten letztlich noch ein paar nette Pulverschwünge – und ein langer Abstieg mit schwerem Gepäck!
Infos zur Cima Tosa
Die Cima Tosa (3.173 Meter) ist der höchste Gipfel der Brenta-Gruppe im Trentino. Der 900 Höhenmeter lange und rund 50 Grad steile Eisanstieg durch die Canalone Neri in der Nordwand gehört zu den längsten und spektakulärsten Eistouren der Ostalpen. Unterkunft im Talort Madonna di Campiglio oder im bewirtschafteten Rifugio Brentei (2.182 Meter, Juni bis September) des italienischen Alpenvereins.
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