Prolog
Pyrenäen – schon länger überlegte ich, wie man dem Gebirge mit dem für deutsche Ohren so exotischen Namen am besten einen Besuch abstatten könnte. Dann fiel mir per Zufall beim Schmökern in einem großen Sportfachgeschäft ein Führer zur „HRP“, der Haute Randonnée Pyrénnéenne, in die Hände.
Sofort war ich begeistert von der Idee, die Pyrenäen auf diesem 800 Kilometer langen, hochalpinen und anspruchsvollen Weitwanderweg zu durchqueren – oder zumindest auf einem Teil davon. Mal auf der spanischen, mal auf der französischen Seite der Grenze führt die HRP vom Mittelmeer bis zum Atlantik – allein die Lektüre des Führers ließ meine Vorfreude steigen.
Zu zweit auf der HRP
Schnell steht fest: Wir werden nur knapp die Hälfte der HRP beschreiten, die Ton Joosten in seinem Standardwerk „The Pyrenean Haute Route“ in 45 Etappen unterteilt hat. Für mehr fehlt meiner Frau und mir – sehr zu unserem Leidwesen – die Zeit. Doch wir werden wiederkommen, versprochen!
Schon im Vorhinein haben wir uns dazu entschlossen, den Schwerpunkt auf Zeltübernachtungen zu legen. Schöne Übernachtungsorte finden, die Ruhe des Hochgebirges erleben – dafür nehmen wir schwere Rucksäcke in Kauf. Flexibilität und Freiheit in den Bergen – das ist es, was uns magisch anzieht. Entsprechend akribisch war auch die Planung, wir haben für eine gute Woche Nahrung an Bord. Nachdem wir ansonsten zwar leichte Ausrüstung – aber sicher nicht das leichteste vom Leichten – auf dem Rücken haben, schraubt sich das Gewicht der Rucksäcke in meinem Fall knapp über die 30 Kilo-Marke.
Um eine etwaige Verwirrung gleich zu Beginn zu vermeiden: Die HRP sollte nicht mit den deutlich zahmeren Pyrenäen-Weitwanderwegen GR 10 und GR 11 verwechselt werden, die nur selten den schroffen Hauptkamm des Gebirges berühren und deutlich „gemütlicher“ ausfallen. Auf der HRP wird ernst gemacht, Pässe bis weit über 2.000 Meter sind eher die Regel als die Ausnahme, zumindest im Kernteil.
Anreise per Bahn&Bus
Wir wählen eine einigermaßen klimafreundliche Anreise per Zug. Von München geht es mit dem TGV direkt nach Paris-Est, dort quetschen wir uns mit unseren recht voluminösen Rucksäcken in den RER, um schließlich den nächsten TGV von Paris-Montparnasse nach Bordeaux zu erwischen. Ein weiteres Mal umsteigen bringt uns direkt nach Lourdes, wo wir der Einfachheit halber in einem bahnhofsnahen Ibis-Hotel Quartier beziehen.
Wir waren zwar den ganzen Tag unterwegs – in den traumhaft komfortablen TGVs für uns Bahn-Fans allerdings ein aussichts- und abwechslungsreiches Unterfangen. Zwischendrin Lesen, Schlafen, Musikhören – für mich ist die Anreise per Bahn unschlagbar, wenn man nicht gerade den Zug verpasst oder Verspätungen in Kauf nehmen muss, wovon wir zum Glück verschont bleiben…
Mit dem Bus von Lourdes nach Gavarnie
Lourdes – das ist in erster Linie der Wallfahrtsort mit der unter katholischen Pilgern weltweit bekannten Mariengrotte. Nach Paris zählt Lourdes die meisten Übernachtungen pro Jahr in ganz Frankreich (!). Man bekommt fast schon ein schlechtes Gewissen, die Grotte einfach so links liegen zu lassen. Auf der anderen Seite ist mir schleierhaft, wie man (wie die meisten Pilger) nur wegen dieser einen Höhle nach Lourdes kommen kann, in der sich angeblich mehrere Wunder ereignet haben, wo sich nur wenige Kilometer entfernt eine fantastische Bergwelt, die über 3.000 Meter hohen Gipfel der Pyrenäen, auftut.
Aber wie so vieles ist das eine Frage des Glaubens – der eine glaubt an Wunder, der andere glaubt an die Selbstfindung in den Bergen. So zuckeln wir nach einer entspannten Nacht im Hotel in einem angenehm gefüllten Bus in etwa einer Stunde direkt vom Bahnhof Lourdes am Mariengrotten-Trubel vorbei über Luz-Saint Sauveur bis nach Gavarnie, den Ausgangspunkt unserer Weitwanderung.
Zur Akklimatisation wandern wir am Abend noch in den Cirque de Gavarnie zu den gewaltigen gleichnamigen Wasserfällen – mit 422 Metern die höchsten Frankreichs. Die Höhe der Fälle ist schwer fassbar. Der gewaltige Felskessel, in dem sie eingebettet sind, macht eine realistische Einschätzung schwierig.
Teil I: Start ins große Bergabenteuer
Am nächsten Morgen geht’s endlich los, der Himmel zeigt sich zu unserer Freude wolkenlos. Zu Beginn steuern wir den Vignemale an, seines Zeichens der höchste französische Pyrenäenberg. An seiner Flanke finden wir auf ca. 2.350 Metern einen lauschigen Zeltplatz mit großartiger Aussicht auf unseren gesamten Aufstiegsweg.
Frühmorgens lasse ich es mir nicht nehmen, über den Glacier d’Ossoue dem Pique Longue, mit 3.298 Metern höchster Gipfel des Vignemale-Massivs, aufs Haupt zu steigen. Der Gletscher ist spaltenarm, firnbedeckt und recht zahm, der Gipfel selbst über harmlose, wenn auch anregende Kraxelfelsen zu erreichen. Zusammen mit ein paar anderen genieße ich den Ausblick, der bis weit nach Spanien reicht.
Über das Refuge de Bayssellance besteigen wie anschließend noch gemeinsam den (gletscherfreien) 3.032 Meter hohen Petit Vignemale, ehe wir dem Wegverlauf der HRP zum Col des Mulets folgen. Eine längere Querung führt uns schließlich zum Col d’Arratille, beim gleichnamigen See schlagen wir unser Zelt auf.
Ein Morgen wie aus dem Bergbilderbuch erwartet uns. Über einzelne Altschnee-Lawinenkegel führt der Weg anschließend abwechslungreich und wunderschön hinab zum Refuge Wallon Marcadau. Was für ein Hüttenstandort! Wir lassen uns einen kleinen Snack schmecken und genießen die kühlenden Gumpen des Gave du Marcadau.
Bergeinsamkeit an der französisch-spanischen Grenze
Es fällt schwer, den schönsten Übernachtungsplatz auf unserer Weitwanderung zu benennen. Und doch gehört für mich der nun folgende am Lac de la Fache zu den drei schönsten der ganzen Tour. Es ist einsam hier oben auf 2.400 Meter, keine Menschenseele ist zu sehen. Wir baden im See, genießen die Stille und beobachten, wie der Wind das Wasser kräuselt.
Am nächsten Morgen geht es gedankenversunken auf den Col de la Fache, ich kraxle schnell die rund 350 Höhenmeter hinauf zum Gipfel des Grande Fache (3.005 Meter) und fachsimple mit ein paar Spaniern über die Eigenheiten des Bergsteigens. Nun sind wir das erste Mal für längere Zeit auf spanischem Staatsgebiet unterwegs und erreichen das über einem Stausee gelegene Refugio de Respomuso. Ein Hubschrauber kommt angeknattert, versorgt die 2.220 Meter hoch gelegene Hütte, die mich mit ihrer 80er Jahre-Einrichtung stark an eine Jugendherberge erinnert, mit Essen.
Die „Schlüsselstelle“ der westlichen HRP
Wir ahnen nicht, was nun bevorsteht. Eine Weile noch geht es fast auf Höhenlinie eine Bergflanke entlang, dann knickt der Weg nach Norden zu den beiden Stauseen von Arriel ab. Wie viele hochalpine Bergsee-Idyllen man hier serviert bekommt – ich habe aufgehört zu zählen. Doch genau deshalb sind wir hier – unsere Erwartungen werden nicht im Geringsten enttäuscht.
Zunehmend steil führt der Pfad durch grobes Blockwerk zum Col d’Arremoulit. Unsere Rucksäcke drücken gnadenlos auf die Schultern. Wir geben alles, um an dieser Stelle nicht vor der HRP zu kapitulieren. Die Herausforderung alles, was man zum Bergleben braucht, auf dem Rücken tausende von Höhenmetern hochzuwuchten, ist nicht zu unterschätzen. Doch die Qual ist es wert, die Zeltplätze hier gehören zum schönsten, was ich in meinem bisherigen Bergsteigerleben erleben durfte.
Dann, endlich, die 2.448 Meter hohe Passhöhe. Die Lacs d’Arremoulit glänzen in der Abendsonne, der 2.824 Meter hohe Pico d’Arriel reckt darüber sein schroffes Haupt in den Himmel. Uns laufen die Tränen in die Augen. Das enge Beisammensein von körperlicher Qual und unbeschreiblicher Bergschönheit – es ist schwer zu erfassen. Müde bauen wir unser Zelt auf, suchen einen Badeplatz. Wieder einer dieser magischen Momente, wie man sie auf der Haute Randonnée Pyrénéenne immer wieder erlebt.
Zwischenabstieg – und Aufstieg zum Refuge Pombie
Nun könnte man – fast auf Höhenlinie – hinüber zum Col d’Arrious queren, jedoch erscheint uns der Weg hinüber mit den schweren Rucksäcken zu ausgesetzt. Ein Fehltritt könnte hier fatale Folgen haben. Also heißt es relativ weit absteigen, nur um nach dem Aufstieg zum Col erneut bis auf unter 1.400 Meter abzusteigen – so weit unten waren wir seit dem Start in Gavarnie nicht mehr!
Allerdings steht uns nun etwas ganz Besonderes bevor – unsere einzige „alpine“ Hüttenübernachtung auf dem Refuge de Pombie und – eine warme Dusche. Das hübsche, gemauerte Refuge mit den roten Fensterläden wird von Karine Depeyre und ihrer Familie liebevoll bewirtschaftet – die ganze restliche HRP schwärmen wir noch von der Verköstigung und herzlichen Gastfreundschaft – und von den Bekanntschaften, die wir an diesem Abend schließen, zum Beispiel mit einem Australier, der die ganze HRP „en bloc“ machen will.
Unter dem Pic du Midi d’Ossau
Am Abend hoffen wir, eines der Wahrzeichen der Pyrenäen, den 2.885 Meter hohen Pic du Midi d’Ossau, ganz aus der Nähe sehen zu können. Das Refuge Pombie ist das Basislager für diesen Berg, der die Umgebung mit seiner charakteristischen Doppelspitze bei weitem überragt – die Fernsicht von dort oben soll fantastisch sein und bis zum Meer reichen. Doch leider bleibt uns der Anblick des Giganten, den wir am Vortag aus der Ferne noch bei wolkenlosem Himmel bewundern konnten, verwehrt.
Bei nebligem Wetter erreichen wir am Folgetag den unförmigen spanischen Ski-Ort Astún, der an Les Deux Alpes und ähnliche französische Beton-Bettentempel erinnert. Dafür trumpft das benachbarte Candanchú mit dem günstigsten und leckersten Mittagessen der gesamten Tour auf – die Spanier wissen einfach, wie man hungrige Weitwanderer satt bekommt! Aus einem Verdauungsschläfchen wird jedoch nichts, es beginnt zu dämmern, wir müssen weiter. Schon bei Dunkelheit erreichen wir den Ibon de Estanés (Ibon = spanisch für Gebirgssee), wo wir uns nah am Wasser eine ebene Stelle zum Zelten suchen.
Geier im Tiefflug
Nach einem Zwischenabstieg erreichen wir am nächsten Tag die Hochebene – oder besser gesagt den gewaltigen Gebirgsbalkon – unterhalb des Pic d’Arlet. Während einer Pause kommt plötzlich ein dunkler, großer Schatten angehuscht. Ein beeindruckender Gänsegeier fliegt nur wenige Meter über unsere Köpfe hinweg. „War das ein Drohangriff?“ schießt es mir durch den Kopf. Doch der Geier verschwindet in der Ferne über dem nächsten Talkessel und schraubt sich in einem Thermik-Bart wieder in die Höhe.
Mit einer Spannweite von bis zu 2,70 Metern sind die Greifvögel eine gewaltige Erscheinung. Allein in Spanien soll es mehr als 22.500 Brutpaare geben, ein Großteil davon in den Pyrenäen. Wenig später erfolgt die Auflösung des Geier-Rätsels: rund 25 Exemplare streiten sich gackernd – oder besser keifend – um die kümmerlichen Reste eines Kuhkadavers. Die herumhüpfenden, sich gegenseitig attackierenden Tiere sind eine furchteinflößende Erscheinung. Wer sich ein wenig mit Geiern beschäftigt lernt, dass es eine klar geregelte „Tischordnung“ gibt. Auf den ersten Blick ist diese nicht unbedingt ersichtlich. Wie wir später erfahren, lassen einige Bauern verendete Rinder und Schafe im unzugänglichen Gelände einfach liegen. Um die „Entsorgung“ kümmern sich anschließend die Geier. Ein nicht ganz unumstrittenes Prozedere, kann das Grundwasser vom Aas doch verunreinigt werden.
Schwer beeindruckt von den großen Greifvögeln ziehen wir weiter zum Refuge d’Arlet, in dessen unmittelbarer Umgebung wir am Rande des Lac d’Arlet unser Zelt aufschlagen. Wir lernen zwei Deutsche kennen, die die HRP in umgekehrter Richtung bewandern und tauschen uns über die Wegverhältnisse aus. Am nächsten Tag geht es dann weiter sehr aussichtsreich hinab nach Lescun, ein wunderschönes Bergdörfchen zu Füßen des 2.504 Meter hohen Pic d’Anie, wo wir es uns für zwei Nächte auf einem Campingplatz bequem machen. Pausentag!
Teil II: Über den Karst in die Grünen Berge
Nach mehreren 500-Gramm-Packungen Nudeln und reichlich entspanntem Faulenzen auf der Isomatte lockt sie uns dann wieder, die zauberhafte HRP. Wir wollen über den Karst de Larra, eines der größten Karrenfelder Europas, den Pic d’Orhy erreichen, den westlichsten Zweitausender der Pyrenäen.
Doch zunächst gilt es von Lescun hinaufsteigen, hinauf auf das rund 2.000 Meter hohe Karstplateau, auf das die Sonne an diesen Sommertagen gnadenlos herabbrennt. Oben angekommen, begegnet uns ein amerikanischer Weitwanderer, dem das Wasser ausgegangen ist. Er macht einen etwas desorientierten Eindruck. Wir geben ihm zu trinken, erklären kurz, wo die nächste Quelle liegt und machen uns langsam auf die Suche nach einem schönen Zeltplatz, froh, dass wir heute ausreichend Wasser gebunkert haben.
Der nächste Tag bringt beeindruckend schönes Wetter – und eine lange, aussichtsreiche Kammwanderung. Die Breite des gesamten Gebirgszugs der Pyrenäen nimmt ab, man erahnt das Tal des Ardour und die französichen Niederungen an der Biskaya in der Ferne. Ein paar Schafherden, einige wenige Tageswanderer – ansonsten nur die Weite, der Pfad und wir. Es ist schon beeindruckend, wie wenig andere Leute wir hier treffen, obwohl wir uns mitten in der Hochsaison befinden.
Gewitter über dem Pic d’Orhy
Der Plan, direkt auf dem Gebirgskamm zu zelten, um am nächsten Tag den 2.017 Meter hohen Pic d’Orhy zu überschreiten, wird durch sich auftürmende Wolken in beeindruckend kurzer Zeit zunichte gemacht. Die Wolken schießen in die Höhe, es beginnt zu donnern, wir bekommen Panik, das sieht hier oben, so ganz ungeschützt weit oberhalb der Vegetationsgrenze, sehr bedrohlich aus. Was es bedeutet, wenn einem das Zelt im Gewitter in exponierter Lage um die Ohren fliegt, habe ich oft genug erlebt!
Zum Glück erreichen wir bald den Port de Larrau, einen Straßenpass kurz vor dem Pic d’Orhy. Aus der Ferne sehen wir, dass ein VW-Bus auf einem kleinen Parkplatz Halt gemacht hat. Es beginnt zu regnen, der Wind weht in harten Böen von Spanien her. Der Fahrer des VW gestikuliert – er will uns mitnehmen. Kurzentschlossen springen wir in den Bus – und treffen auf eine vierköpfige französische Familie auf dem Heimweg aus Spanien. Sie nehmen uns mit in den Talort Larrau, wo wir auf einem Campingplatz im Gewitter unser Zelt aufbauen uns es uns so gut wie möglich gemütlich machen. Besser als auf dem Bergkamm ist das hier allemal!
- Lesetipp: Tipps zum Zelten im Gewitter
Zwischen Farn und Bremsen
Auch mit scheußlichen Tagen muss man auf Weitwanderungen rechnen – der nächste ist ein solcher. Zunächst verlassen wir Larrau Richtung Col Bagargui durch ein pittoreskes Tal. Schließlich geht es recht steil nach oben. An den sonnenbeschienenen Berghängen ist es schwülwarm, der Regen der vergangenen Stunden steigt als Wasserdampf durch den mannshohen Farn.
Bremsen schwirren zwischen dem Grün umher – und stürzen sich auf uns. Mit unseren schweren Rucksäcken sind wir nur wenig agil und nahezu wehrlos. So gut es geht versuchen wir, die sich auf uns stürzenden Plagegeister zu erschlagen oder zumindest zu vertreiben. Als diese Tortur nach hunderten von Höhenmetern endlich vorbei ist, atmen wir tief durch – und suchen uns eine Übernachtungsmöglichkeit, die wir in der Nähe des kleinen Lac d’Iraty in Form eines Campingplatzes auch finden. Ganz ohne Bremsen.
Fast unmerklich haben wir uns von den Hoch-Pyrenäen in etwas lieblichere Gefilde begeben und die Grenze zum Baskenland (franz. Pays Basque, spanisch El país Vasco und baskisch Euskadi) überschritten. Orts- und Flurnamen zeugen davon – Orbaizeta, Aiztegi, Doneztebe – die Basken lieben das z!
Durch bewaldete Höhenzüge
Die Schroffheit der Region rund um den Pic d’Anie hat bewaldeten Höhenzügen und kahlen Bergkuppen Platz gemacht, die die nächsten Wanderetappen charakterisieren. Die Berge erreichen hier nurmehr knapp 1.500 Meter Höhe, der Blick schweift nicht mehr in die Ferne, sondern bleibt oft an bewaldeten Bergflanken hängen. Man fragt sich, was wohl hinter der nächsten Wegbiegung wartet – voller Vorfreude auf neue Entdeckungen.
Über den sagenumwobenden Gipfel des Okabe, wo Nebel die Sicht stark einschränkt, erreichen wir das kleine Bergnest Egurgi – und verlaufen uns beinahe südlich des Mendizar. Endlich geht es auf einer Teerstraße hinab Richtung Larraun. Wir sind müde und hungrig – und haben heute keine große Lust auf eine weitere Zeltübernachtung.
Ungefähr gleichzeitig mit Erreichen des Zeltplatzes von Larraun erspähen wir von weitem eine Pension, die mit ihrer großen Terrasse besonders einladend wirkt. Was nun folgt, ist für mich ein weiteres Highlight der Reise – wir wohnen einer baskischen Hochzeitsfeier bei, die stimmungsgeladener nicht sein könnte. Satt und glücklich plumpsen wir in die ungewohnt komfortablen Federn …
Über Roncesvalles in die niedrigeren Pyrenäen
Durch dicht bewaldete Berge wandern wir anderntags nach Roncesvalles (franz.:Roncevaux) – drei der vier wichtigsten Pilgerwege nach Santiago de Compostela passieren hier gebündelt die Pyrenäen. Alle gehören zum Wegenetz des Jakobswegs, das wir hier kurz touchieren. Zwischen den Gebäuden des geschichtsträchtigen Orts, in dessen Nähe das Heer Karls des Großen im Jahr 778 von den Basken geschlagen wurde, atmen wir geschichtsträchtige Luft.
Zwischen Jakobsweg-Pilgern nehmen wir ein herzhaftes Mittagessen zu uns, ehe wir über den Puerto de Ibañeta wieder einsamere Pfade erreichen. Ab hier fühlen sich die Pyrenäen ein bisschen wie ein deutsches Mittelgebirge an – nur anders besiedelt, abwechslungsreicher – und voller Hinweise auf die baskische Kultur, sei es durch Häuser, die in den baskischen Nationalfarben rot, grün und weiß gestrichen sind, sei es, durch Wandmalereien oder einfach nur die Worte „Euskal Herria“ (weiterer baskischer Ausdruck für Baskenland). Ein winziger, etwas verwildeter Campingplatz hinter der kleinen Ortschaft Urepel ist unser nächster Nächtigungsort.
Geier über dem Swimmingpool
Nahe Aldudes erklimmen wir schließlich den nächsten Höhenrücken – einer der letzten markanteren Anstiege auf der HRP. Bei Erratzu wird auf einem wunderschönen Campingplatz gecampt – und am Pool entspannt. Ich döse vor mich hin, als sich in knapp 100 Meter Höhe über dem Platz eine gewaltige Schar Geier ein Stelldichein gibt. Fast schwerlos schrauben sich die Vögel sich der warmen Augustluft majestätisch nach oben. Ich zähle mehr als 40 Geier …
Hier können wir die Nähe des Meers schon fast riechen – die Vorfreude auf das Erreichen des Ozeans steigt. Somit greifen wir die letzten Etappen mit Elan an, lassen uns jedoch auch kleinere Sehenswürdigkeiten am Wegesrand wie die hübsche Kirche von Azpilikueta nicht entgehen. Auch auf die baskische Nationalsportart Pelota werden wir aufmerksam. Jedes Dorf, das etwas auf sich hält, verfügt über einen sogenannten Frontón, wie das Pelota-Spielfeld genannt wird. Im Baskenland spielt Pelota eine größere Rolle als der in Spanien sonst so dominante Fußball.
Langsam steigen wir hinauf zu den Cromlechs auf dem Höhenzug des Atxuela, Zeugen uralter Bestattungskultur. Pferde weiden hier oben. Gleich daneben schauen Bunkeranlagen aus dem Boden, Reste der Linea P, einer von Franco in Auftrag gegebenen Bunkeranlage mit mehreren tausend Betonmonstern, die eine mögliche Invasion der Alliierten abwehren sollten. In der Ferne erkennen wir bereits die knapp über 900 Meter hohe La Rhune, den letzten bedeutenden Pyrenäenberg, ehe sich das Gebirge auf nur zehn Kilometern zu den Ufern des atlantischen Ozeans hinabsenkt.
Finale an der Biskaya
La Ruhne, 905 Meter. Nach einer einsamen letzten Übernachtung im Buschwerk werden wir von den Touristenmassen, die den aussichtsreichen Berg per Zahnradbahn erreichen, fast schon erschlagen (im Vergleich zur Zugspitze nimmt sich der Zustrom jedoch harmlos aus). Trotzdem genießen wir die Möglichkeit, nach längerer Zeit im infrastrukturellen Nichts einmal wieder am Kiosk ein Sandwich kaufen zu können. Der Blick von hier oben auf die Biskaya ist fantastisch. Wir haben es fast geschafft!
Schließlich schlendern wir hinab Richtung Col d’Ibardin, nicht ahnend, dass jenseits des Passes ein stark bevölkertes Einkaufs-Retortendorf in zollfreiem Gebiet mit gigantischen Plakatwänden und grellbunter Werbung um die Aufmerksamkeit der Käufer buhlt. Nur schnell weiter! Uns ergreift angesichts des schnöden Kommerz das blanke Grausen!
Unser Ziel, der Atlantik-Strand von Hendaye und der Campingplatz Alturan, rückt langsam näher. Von einem Aussichtspunkt erscheint das Meer schon zum Greifen nah. Doch bei den Entfernungen unterschätzt man sich hier allzu leicht.
Nach ein wenig Zähne zusammenbeißen (und Schultern zusammenziehen) ist es tatsächlich geschafft. Nach Tagen in der „Wildnis“ traben wir fast schon ungläubig durch die pulsierenden Straßen des französischen Strand- und Badeorts Hendaye. Surfer kommen uns entgegen, ihr Board leger auf die Schulter gelegt. Ein Blick an uns hinab und uns wird deutlich, dass wir auf dieser knapp dreiwöchigen Tour mit rund 14.000 Höhenmetern und 290 Kilometern ganz ordentlich Kilos verloren haben. Wir wandern weiter bis zum breiten Sandstrand, fallen uns in die Arme. Es ist geschafft – der Atlantik ist erreicht!
Fazit zur Haute Randonnée Pyrénéenne
Einsamkeit, Schönheit des Hochgebirges, das Gefühl ungebundenen, mehrwöchigen Unterwegsseins: Ich kann die HRP nur jedem empfehlen, der genau dies sucht – und das zwischen zwei der größten europäischen Staaten mit ihren urbanen Zentren. Eine über-infrastrukturisierte Berg(spaß)landschaft – wie vielerorts in den Alpen – sucht man entlang des HRP vergeblich, bis auf einige wenige „Ausreißer“ wie am Col d’Ibardin mit seiner Shopping-Mall.
Eines steht für mich dabei im Vordergrund: Die HRP ist ein hochalpiner Fernwanderweg, für dessen Bewältigung man neben einer robusten Kondition über ein gerüttelt Maß an Orientierungsvermögen verfügen sollte. Die Markierungen sind zum Teil dünn gesät – man sollte fit im Kartenlesen sein, wenn man sich nicht gerade per GPS-Track durch die Berge lotsen lässt. Das wäre mir schlicht zu fad gewesen, denn Navigieren kann auch sehr viel Spaß machen!
Wer sich – wie wir – primär auf die Übernachtung im Zelt einlässt, sollte zudem keine Angst vor schweren Rucksäcken haben. Die Einkaufsmöglichkeiten, speziell im hochalpinen mittleren Teil der HRP, sind sehr spartanisch. Man kommt zwar hin- und wieder an Hütten vorbei – Verpflegungspunkte wie Supermärkte sind jedoch Mangelware. Von daher heißt es für Selbstversorger: Nahrung bunkern und unterwegs auf den Hütten snacken! Wer all diese Mühen auf sich nimmt, wird von der HRP über alle Maßen belohnt. Die Routenführung, die Ausblicke, die Zeltplätze – das alles wird auch erfahrenen Weitwanderen ein Leben lang in Erinnerung bleiben.
Unsere Reiseetappen
- Tag: Anreise München-Lourdes (Bahn)
- Tag: Anreise Lourdes-Gavarnie (Bus) mit Wanderung zu den gleichnamigen Wasserfällen
- Tag: Gavarnie – Zeltplatz am Vignemale
- Tag: Zeltplatz Vignemale (- Pique Longue) – Petit Vignemale – Lac du Col d’Arratille
- Tag: Lac du Col d’Arratille – Lac de la Fache
- Tag: Lac de la Fache (-Grande Fache) – Lacs d’Arrémoulit
- Tag: Lacs d’Arremoulit – Refuge de Pombie
- Tag: Refuge de Pombie – Ibon de Estanés
- Tag: Ibon de Estanés – Lac d’Arlet
- Tag: Lac d’Arlet – Camping du Lauzart/Lescun
- Tag: Ruhetag Lescun
- Tag: Lescun – Zeltplatz vor dem Refugio Belagua
- Tag: Refugio Belagua – Larrau
- Tag: Larrau – Camping Iraty
- Tag: Camping Iraty – Pension kurz vor Larraun
- Tag: Larraun – Camping bei Urepel
- Tag: Urepel – Camping Baztan bei Erratzu
- Tag: Erratzu – Biwakplatz Nähe Col Lizarrieta
- Tag: Biwakplatz Col Lizarrieta – Camping Alturan Hendaye
- Tag: Abreise Hendaye – Paris (Bahn)
- Tag: Ruhetag in Paris (Der Rummel in der französischen Hauptstadt hat uns eher gestresst, als dass er entspannend wirkte…)
- Tag: Abreise Paris – München (Nachtzug)
Do’s und Dont’s:
Klares Do ist die Mitnahme von ausreichend Wasser zwischen Lescun und Larrau. Im Hochsommer kann es hier sehr trocken werden. In den Zentralpyrenäen ist das „Wasserproblem“ weniger problematisch.
Don’t: Wenn man wie wir den Großteil der Nächte im Zelt verbringt, sollte man der Umwelt eine gesteigerte Aufmerksamkeit angedeihen lassen. Analog zum skandinavischen „Jedermannsrecht“ sollte jeder Platz so verlassen werden, wie er vorgefunden wurde.
Do: Müll entlang des HRP sollte eingesammelt und im nächsten Talort entsorgt werden. Getreu dem Motto „Take 3 from the Sea“ kann man genauso „Take 3 from the mountains“ als Motto einer Weitwanderung wählen!
Don’t: Die HRP sollte nicht unterschätzt werden. Am Col d’Ibardin begegneten wir zwei leidlich gut ausgerüsteten Niederländern, die – nach nur ca. 20 Kilometern auf der HRP – aufgrund des rauen Profils schon wieder ans Aufgeben dachten (wir versuchten, ihnen gut zuzureden).
Zur Orientierung unerlässlich:
- Führer: Ton Joosten – The Pyrenean Haute Route
Die Highlights der Haute Randonnée Pyrénéenne
- Vergleichsweise einsamer Weitwanderweg durch eine der spektakulärsten Bergregionen Europas
- Im Vergleich zu (nord)alpinen Gebirgszügen eine echte Vielfalt kleiner Bergseen (im Sommer auf keinen Fall Badebekleidung vergessen!)
- Spannender Grenzgang zwischen Frankreich und Spanien
- Möglichkeit, zwischendrin zahlreiche Dreitausender (u.a. Grande und Petit Vignemale, Grand Fache und Balaitous) zu besteigen
- Klimafreundliche An- und Abreise per Bus&Bahn problemlos möglich
Hinweis zum Zelten/Biwaken: Biwaken wird in den Pyrenäen zwischen 19 und 9 Uhr insofern toleriert, als man weit genug vom nächsten per Kfz erreichbaren Ort oder von der Außengrenze des Parks entfernt ist. Als Faustregel gilt: Weiter als ein einstündiger Fußmarsch sollte es sein!
GPS-Tracks zur HRP
Die GPS-Tracks haben wir der Einfachheit halber in vier Abschnitte unterteilt. Teil 1 umfasst die HRP ab Campingplatz Gavarnie bis zum Ortszentrum von Candanchú. Die drei Bergbesteigungen (Pique Longue, Petit Vignemale, Grande Fache) sind hier ebenfalls enthalten. Teil 2 umfasst die Strecke von Candanchú über Lescun bis zur Passhöhe des Port de Larrau, Teil 3 schließlich die Strecke vom Camping in Larrau bis zum Camping Baztan in Erratzu. Teil 4 führt schließlich von Erratzu bis nach Hendaye.
WARNUNG: An dieser Stelle auch die eindringliche Warnung, dass die hier dargestellten GPS-Tracks lediglich Näherungswerte zum tatsächlichen Track darstellen. Sie sind nicht „live aufgenommen“, sondern mit einem Tool nachträglich erstellt. Im Baskenland weist die HRP mitunter beträchtliche Abweichungen zum hier dargestellten Track auf.
- Teil 1 Gavarnie-Candanchú: 79,5 km/6.300 Höhenmeter
[sgpx gpx=“/var/www/magazin_releases/release_de/web/app/uploads/gpx/HRP_Teil1_Gavarnie-Candanchu.gpx“]
- Teil 2 Candanchú-Larrau: 72 km/3.550 Höhenmeter
[sgpx gpx=“/var/www/magazin_releases/release_de/web/app/uploads/gpx/HRP_Teil2_Candanchu-Port_de_Larrau.gpx“]
- Teil 3 Larrau-Erratzu: 80 km/3.100 Höhenmeter
[sgpx gpx=“/var/www/magazin_releases/release_de/web/app/uploads/gpx/HRP_Teil3_Larrau_Erratzu.gpx“]
- Teil 4 Erratzu: Hendaye: 53, 5 km/2.050 Höhenmeter
[sgpx gpx=“/var/www/magazin_releases/release_de/web/app/uploads/gpx/HRP_Teil4_Erratz-Hendaye.gpx“]
Weitere Tourentipps im Bergzeit Magazin
- Zu Fuß über die Alpen: In 120 Tagen von Triest nach Monaco
- Schächentaler Höhenweg
- Unterwegs auf dem E5: von Oberstdorf nach Meran
- Auf dem Appalachian Trail durch die Appalachen
- Schottland: Wandern auf dem Wester Ross Trail durch die NW Highlands
- Pyrenäen-Cross: Mit dem Mountainbike vom Mittelmeer zum Atlantik