H.G. Willink
Vor noch gar nicht allzu langer Zeit waren die Alpengletscher etwas eher Bedrohliches. In einer berühmten Zeichnung aus dem Jahr 1892 ist der Mer de Glace-Gletscher in Chamonix als Drachen dargestellt, der aus den eisigen Höhen ins Tal kriecht. Die Zunge des Drachen schleckt über die Wiesen im Talboden, vermutlich hungrig auf der Suche nach ein paar Kühen oder Hirten.
Heutzutage weckt der Mer de Glace-Gletscher andere Assoziationen. Die Aussichtsplattform an der Montenvers-Bahn, wo seit gut 100 Jahren Touristen das vermeintlich ewige Eis bewundern, war ursprünglich fast auf gleicher Höhe mit dem Gletscher. 1985 wurde eine kleine Gondel gebaut, um die zunehmende Distanz zum Eis zu überbrücken. Mittlerweile führen zahlreiche Treppen von der Gondel noch etwa 100 Höhenmeter weiter nach unten.
Endlich am legendären „Meer aus Eis“ angekommen, bietet sich dann ein ernüchternder Anblick: Das verbleibende Eis ist von Geröll und Staub bedeckt, Kunststoffplanen decken den Eingang zu einer tropfenden Eishöhle ab, damit die Touristenattraktion den Sommer übersteht. Der einst bedrohliche Drache ist höchstens noch eine altersschwache Eidechse.
Gletscherschmelze in den Alpen und der Klimawandel
Der Zusammenhang zwischen schmelzendem Eis und steigender Temperatur ist intuitiv verständlich und die Gletscherschmelze in den Alpen eindeutig sichtbar. Deshalb verdeutlichen solche Veränderungen die Auswirkungen des Klimawandels auf beeindruckende Weise.
Was in Berichten über globale Temperaturanstiege von 1.5 oder 2 Grad Celsius oft abstrakt wirkt, wird an den Gletschern greifbar. Entsprechend hoch ist die Symbolwirkung von Gletschervergleichsbildern oder auch Fotos von Gletscherskigebieten mit ihren Abdeckplanen, die im Sommer so gar nicht nach alpiner Postkartenkulisse aussehen.
Wie steht es um die Alpengletscher?
Auch jenseits der Symbolik, in der nüchternen Welt der Zahlen, ist die Entwicklung eindeutig. Alpenweit gibt es um die 4.000 Gletscher. Die meisten sind viel kleiner als bekannte Riesen wie der Aletschgletscher, die Pasterze oder eben der Mer de Glace-Gletscher. Seit 1900 haben die Alpengletscher etwa 50 Prozent ihres Gesamtvolumens verloren. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Verlust deutlich beschleunigt. Bis 2050 wird es in den Alpen voraussichtlich nur noch etwa halb so viel Eis geben wie derzeit, wobei die Schwankungsbreite für individuelle Gletscher hoch ist.
Lea Hartl
Gletscher haben ein sogenanntes Akkumulationsgebiet, in dem das ganze Jahr über Schnee liegt und langsam zu Eis wird und ein Ablationsgebiet, wo das Eis im Sommer blank ist und schmilzt. Wenn im Akkumulationsgebiet durch Schneeeintrag gleich viel Masse gewonnen wird, wie im Ablationsgebiet verloren geht, ist der Gletscher im Gleichgewicht.
Ändern sich die klimatischen Bedingungen, verändert sich auch der Gletscher. Schneereiche Winter können die sommerliche Schmelze verzögern oder abpuffern. Auch kleinere Schneefälle im Sommer, die Blankeis mit einer dünnen Schicht Neuschnee überziehen, mindern die Schmelze, da der helle Schnee die Sonnenstrahlung stärker reflektiert als das dunklere Eis.
Wenn die Temperaturen kontinuierlich steigen, schmilzt hingegen nicht nur das Gletschereis sondern auch der ganzjährige Schnee in den Akkumulationsgebieten. Die Firnrücklagen werden kleiner oder verschwinden vollständig und das freiliegende Eis schmilzt auf entsprechend größeren Flächen.
Gletscher reagieren etwas verzögert auf Klimaveränderungen und hinken dem aktuellen Klimazustand daher immer ein bisschen hinterher. Selbst wenn die Temperaturen ab heute konstant blieben, würden die Gletscher weiterhin kleiner werden, bis sie einen neuen Gleichgewichtszustand erreichen. Auch deswegen sind die weiteren Verluste, ganz grob bis etwa 2050, quasi vorprogrammiert. Was danach passiert, hängt davon ab, ob und wie stark Emissionen reduziert werden.
Negativrekorde im Sommer 2022
Die Kombination aus wenig Schnee im Winter und anhaltend hohen Temperaturen im Sommer setzt den Gletschern dieses Jahr besonders zu. Schon Ende Juni waren viele Gletscher bis in hohe Lagen aper, so dass die Eisschmelze deutlich früher einsetzte als üblich. Besonders auf den relativ kleinen und niedrigen Gletschern der Ostalpen ist bereits in vergangenen Sommern ein Großteil der Firnrücklagen geschmolzen. Viele sind dieses Jahr nun vollständig schneefrei.
Somit findet auf der gesamten Gletscherfläche Ablation statt und es kommt auch in den sonst ganzjährig schneebedeckten Gipfelregionen zu Eisverlusten von mehreren Metern. So etwa am Jamtalferner in der Tiroler Silvretta, wo dieses Jahr an der höchsten Messstelle auf über 3.000 Meter bereits mehr als drei Meter Eis geschmolzen sind.
Gletscherschmelze in den Alpen: Traurige Rekorde
Statistisch liegt die Ablationssaison 2022 schon jetzt außerhalb der bekannten Schwankungsbreiten, die durch normale Variabilität in der Witterung entsteht. Klimatisch sowie glaziologisch wird der heurige Sommer bezüglich der Gletscherschmelze in den Alpen traurige Rekorde brechen.
www.foto-webcam.eu
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Hier kannst Du einen Blick auf die aktuelle Lage am Hintereisferner werfen.
Spuren der Vergangenheit
Wie so oft werden die Auswirkungen der Klimakrise auf den Gletschern besonders anschaulich verdeutlicht. Die extremen Eisverluste in großen Höhen führen auch dazu, dass lange im Eis Verschollenes wieder auftaucht. So ist diesen Sommer ein 1968 abgestürztes Flugzeug aus dem Aletschgletscher ausgeschmolzen. Auf anderen Gletschern im Wallis wurden die sterblichen Überreste zweier Alpinisten gefunden und am Gipfelplateau der Weißseespitze in Tirol ist eine vermutlich ca. 500 Jahre alte Gämse entdeckt worden.
Lea Hartl
Lea Hartl
Wenn jahrhunderte- bis jahrtausendealtes Eis schmilzt, geht damit auch ein wertvolles Klimaarchiv verloren. Durch im Eis eingeschlossene Pollen und andere Partikel lassen sich einzigartige Informationen über die klimatischen Bedingungen in der Vergangenheit gewinnen. Forschende aus Innsbruck arbeiten diesen Sommer mit Hochdruck daran, noch möglichst viele Eisproben aus alten Bereich für entsprechende Analysen zu sichern, bevor das Eis und die darin enthaltenen Informationen unwiederbringlich verloren gehen.
Wie geht es für die Gletscher der Alpen in Zukunft weiter?
Auch wenn nicht jeder zukünftige Sommer so extreme Verluste mit sich bringen wird wie der aktuelle – das Ende vieler Alpengletscher ist bereits vorprogrammiert. Eine aktuelle Studie aus der Schweiz zeigt, wie die weitere Entwicklung bis ins Jahr 2100 bei ein Grad Celsius, 1.5 Grad Celsius oder zwei Grad Celsius Erwärmung über vorindustriellem Niveau aussieht:
- Im unwahrscheinlichen 1°C-Szenario entsprechen die Verluste bis 2100 „nur“ etwa jenen bis 2050 (circa die Hälfte des aktuellen Eisvolumens).
- Bei 1.5°C verlieren die Alpengletscher bis 2100 knapp 70 Prozent ihres derzeitigen Volumens
- Bei 2°C verschwinden über 80 Prozent des derzeitigen Volumens. Bis 2100 wäre fast nichts mehr übrig, außer einigen kleinen Eisresten in großen Höhen.
In jedem Fall sind die Verluste erheblich.
Lea Hartl
Die Studie verdeutlicht, dass scheinbar kleine Unterschiede von einem halben Grad Erwärmung große Auswirkungen haben. Das gilt natürlich nicht nur für die Gletscher, sondern auch für alle anderen vom Klimawandel betroffenen Bereiche. Dementsprechend wichtig ist es, wirklich um jedes bisschen zu kämpfen. Die voranschreitende Erwärmung muss möglichst stark begrenzt werden.
Was bedeutet die Gletscherschmelze für die Alpen?
Zunächst einmal verändert sich, wie bereits deutlich zu erkennen, die Landschaft. Wo kein Eis mehr ist, bleiben Steine zurück. Eisfrei gewordene Bereiche im Gletschervorfeld werden zwar nach und nach von Pflanzen und Tieren besiedelt – einige Arten gewinnen neuen Lebensraum, andere leiden unter den Veränderungen – aber das dauert seine Zeit und erst einmal dominiert der Eindruck einer Steinwüste voller Geröll.
Entsprechend anders ist das Bergerlebnis. Kartenmaterial kann mit der Geschwindigkeit der Veränderungen oft nicht mithalten. Übergänge, die auf der Karte nach flachen, unschwierigen Gletscherpassagen aussehen, entpuppen sich vor Ort schon mal als brüchige Kletterei.
Drastische Veränderungen des Landschaftsbilds
Außerdem bilden sich häufig neue Seen, wenn Eismassen sich aus Senken im Untergrund zurückziehen und sich dort Wasser sammeln kann. Das ist einerseits eine weitere, mitunter bedeutende landschaftliche Veränderung. Andererseits kann von den Seen auch Gefahr ausgehen, wenn diese beispielsweise eine begrenzende Moräne durchbrechen und Überflutungen verursachen.
Lea Hartl
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Ein eng mit dem Eis verbundenes Thema ist das Wasser. Wenn das Eis der Gletscher schmilzt, gibt es erst einmal mehr Abflusswasser in den Bächen und Flüssen. Irgendwann nimmt die Wassermenge dann ab – wo kein Eis ist, kann schließlich auch nichts schmelzen. Wenn der sommerliche Gletscherabfluss verschwindet, gewinnen Niederschlagsereignisse relativ gesehen für die Flusspegel an Bedeutung.
Die Veränderungen im Wasserhaushalt haben Auswirkungen auf das damit verbundene Ökosystem. Im Alpenraum ist das Gletscherwasser in manchen Regionen zudem für landwirtschaftliche Bewässerungssysteme relevant.
Auf die Trinkwasserversorgung hat es, ganz anders als in manchen trockeneren Gebirgsregionen, vergleichsweise geringe Auswirkungen. Eine den Bergsport betreffende Ausnahme bilden hier manche hochgelegene Hütten, die ihre Wassersysteme anpassen müssen, wenn das Gletscherwasser versiegt. Dennoch spielt der Gletscherabfluss besonders in Phasen großer Trockenheit auch weit stromabwärts im Flachland eine signifikante Rolle für die Flusspegel.
Schon heute sind touristische Attraktionen an Gletschern zumindest im Sommer oft nicht mehr nur auf die reine Schaulust ausgelegt. Das beeindruckende „ewige“ Eis ist nicht mehr so beeindruckend. Und wer bezahlt schon eine Gondelfahrt, um Geröllhaufen zu besichtigen?
Mit Themenwegen und Infotafeln rund um den Gletscherrückgang wird zunehmend die Flucht nach vorn angetreten. Die rapiden Veränderungen sind mitunter beeindruckender als die Eisreste, die dem Massenpublikum noch zugänglich sind. Denn: Es gibt wenig, das uns die Auswirkungen der steigenden Temperaturen so intuitiv und unmissverständlich vor Augen führt wie ein Eisdrache, der – gut dokumentiert – in wenigen Jahrzehnten zur kränklichen Eidechse geworden ist.