Der Name ist Programm! So oder so ähnlich könnte man die Tour auf einen der vielen Dreitausender in den Stubaier Alpen beschreiben: die Wilde Leck. Zwischen Stubai- und Ötztal gelegen, bietet dieser Gipfel feinste Kletterei in festem Gneis mit beeindruckenden Aussichten. Eine lohnende Fortführung der Tour ist der anschließende Übergang zur Hochstubaihütte, die weitere großartige Tourenmöglichkeiten bietet und mit spektakulärer Lage über dem Ötztal punkten kann.
Thomas Herdieckerhoff
Anfahrt zur Tour
Ausgangspunkt für die Wilde Leck ist die Amberger Hütte oberhalb von Gries. Die Anreise erfolgt bis Längenfeld im Ötztal und dann steil links die Passstraße nach oben. Für die hier beschriebene Überschreitung bietet es sich an, das Auto in Längenfeld zu parken und von dort den Wanderbus zu nehmen. Das erleichtert bei der Rückkehr vom Endpunkt Sölden die Heimreise, da der Wanderbus nicht sehr häufig verkehrt. Von Sölden nach Längenfeld verkehren halbstündlich Busse.
Von Gries steigt man auf einem bequemen Fahrweg sehr leicht ansteigend am Bach entlang der Hütte zu (1:30 Stunden, 600 Höhenmeter). Wer nicht die hier beschriebene Überschreitung machen möchte, sondern wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt, kann für den flachen Zustieg zur Hütte auch das Fahrrad verwenden.
Ausgangspunkt der Tour: Die Amberger Hütte
Für meinen Freund und Bergzeit-Fotograf Thomas und mich steht an einem schönen Spätsommertag im September die Überschreitung der Wilden Leck mit anschließendem Übergang zur Hochstubaihütte auf dem Programm. Wir haben stabiles Wetter erwischt, was auf dieser Tour zwingend nötig ist, da es auf dem Ostgrat keine Abbruchsoption gibt.
Die wunderschön gelegene Amberger Hütte wird vom freundlichen Team der Familie Gstrein bewirtet und bietet dank guter Infrastruktur und Erreichbarkeit per Jeep einige Annehmlichkeiten. Somit ist sie der ideale Ausgangspunkt für eine lange und anstrengende Tour wie die Wilde Leck. Nach einem guten Abendessen und entspannter Nacht entschließen wir uns, um 4:45 Uhr von der Hütte aufzubrechen. Wer auf Nummer sicher gehen möchte, der darf ruhig einen noch früheren Zeitpunkt wählen, da man am Ende der Tour neben dem Sulztalferner auch noch den Wütenkarferner quert. Das offizielle Frühstück um 6:30 Uhr verpassen wir somit, aber das freundliche Hüttenteam stellt uns einen Wasserkocher und Brote bereit.
Der erste Abschnitt: Ein „Talhatscher“
Nach etwa 200 Höhenmetern verlässt man den Gletscher wieder auf der rechten Seite. Für Thomas und mich der perfekte Zeitpunkt, um mit den ersten Sonnenstrahlen des Tages eine kleine Pause einzulegen. Ein kurzer Plausch mit einer anderen Seilschaft, ein Schluck Wasser und ein Riegel runden dieses „zweite Frühstück“ ab. Wer möchte, kann hier ein Materialdepot einrichten, was auch wir tun. Steigeisen sollten jedoch aus Sicherheitsgründen im Rucksack verbleiben.
Kletterei zum Gipfel der Wilden Leck
Auf dem Grat zur Wilden Leck angekommen kann je nach Sicherheitsempfinden angeseilt werden. Wer sich entschließt, direkt von Beginn der Gratkletterei zu sichern, der muss wissen, dass es im ersten Teil keinerlei feste Sicherungspunkte gibt – hier muss komplett selbst abgesichert werden. Es bieten sich Köpfelschlingen wohl am besten an, Keile und Friends können am Grat nur schwer platziert werden.
Für uns ist die Abwägung zwischen Sicherheit und Geschwindigkeit in diesem Fall klar: Die ersten Passagen werden seilfrei geklettert, da auch die Exposition nicht allzu groß ist. Dies spart kostbare Zeit – denn diese ist auf dieser langen Tour ein wichtiger Faktor. Folgend geht es durch konstant griffiges und festes IIer-Gelände (eine Stelle III-) immer auf der Gratschneide haltend dem ersten markanten Punkt zu: Ein großer Gendarm ragt aus dem Grat heraus. Sehr gute Kletterer können hier ihr Können zeigen und diesen überklettern. Da wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht angeseilt steigen, entscheiden wir uns jedoch, diesen Gendarm links zu umgehen (III). Hier gilt es zum ersten Mal fest zuzupacken, da die Exposition nun merklich zunimmt. Wer sich hier unsicher fühlt, dem sei das Seil empfohlen – hinter dem Gendarm kann an Blöcken gesichert werden.
Thomas Herdieckerhoff
Thomas Herdieckerhoff
Auch wir können dem „Chamonix-Feeling“ an dieser Stelle nicht widerstehen und machen viele Fotos mit dem markanten Zacken. Speziell bei gutem Wetter ist das sicher die eindrucksvollste Fotokulisse der gesamten Tour. Die Wilde Leck zeigt sich von ihrer besten Seite!
Anschließend geht es zunächst einfach (II), aber etwas ausgesetzt und trittarm über Platten weiter, bevor man wieder am Grat klettert. Insgesamt sind die Passagen auf dem Grat merklich leichter, da durch den festen Fels die Zacken guten Halt bieten. Sobald man in die Flanken ausweichen muss, ist die Exposition deutlich stärker spürbar.
Auch wir weichen abermals in die Südflanke aus und steigen im III. Grad, inzwischen mit Seilsicherung, wieder der Schneide zu. Nun folgt die Schlüsselstelle der Tour (bewertet mit IV), wobei hier bereits der ein oder andere Bohrhaken das Vorankommen sicherer gestaltet.
Wir entscheiden, dass wir hier wie auch in der Folge am laufenden Seil steigen und verzichten auf Standplatzsicherung. Mit vier Expressschlingen und vier Bandschlingen sind wir gut ausgestattet, um so immer ein oder zwei Fixpunkte am Fels zu haben. Dazu kann man am Grat das Seil sehr einfach im Zickzack um die Gneisblöcke laufen lassen. Diese Art der Fortbewegung sollte sicher beherrscht werden, ansonsten sollte man hier von Standplatz zu Standplatz sichern.
Thomas Herdieckerhoff
Die letzten 100 Klettermeter sind dann wieder abwechselnd im II. oder III. Grad, bevor man wie in unserem Fall nach zweieinhalb Stunden Kletterei am Grat den Gipfel erreicht (6:30 Stunden inkl. Pausen ab der Hütte).
Wer mehr als ein Drittel der Kletterei bis hier hin sichert, sollte hier jedoch mindestens eine Stunde extra am Grat einplanen. Für uns ist die Gipfelrast an diesem Tag eher kurz, wissen wir doch, dass noch ein sehr langer Weg zur vor uns liegt. Denn der Abstieg bis zum Couloir zieht sich gewaltig. Im Führer haben wir gelesen, dass man nicht mehr in die Südwand abseilt (Steinschlag). Dazu haben wir unterschiedlichste Meinungen in Foren gelesen, welche die richtige Strategie für den Abstieg ist. Heute machen wir unsere eigene.
Der Abstieg
Vom Gipfel geht es zunächst dem ersten größeren Gegenaufschwung zu. Generell befinden sich auf dem Abstieg sehr viele eingerichtete Abseilstellen. Doch auch hier gilt: jeder Abseiler will mit Blick auf die Uhr abgewogen sein. Wir steigen zunächst frei ab und weichen hierbei immer wenn nötig in die Nordseite aus. Diese ist deutlich vertrauenserweckender, weniger steil und exponiert als die Südwand. Aber auch kälter und Mitte September mit einigen kleinen Schneefeldern punktiert.
Wir treffen auf lediglich einzelne wenige brüchige Stellen und überwinden diese vorsichtigen Schrittes. In manchen Passagen im Abstieg ist es hier hilfreich, sich gegenseitig Hilfestellung bei der Platzierung der Füße zu geben, da man nicht immer sieht, wo man hintritt. An einer längeren brüchigeren und abschüssigen Stelle entschließen wir uns dann, das Seil von der Schulter zu nehmen und genießen 30 Meter entspanntes Abfahren am Seil, bevor wir bequem in einem Sattel stehen. Ein letzter Gegenanstieg und schon befinden wir uns im markierten Gehgelände im Geröll auf der Nordseite. Von hier geht es bis zum tiefsten Punkt, an dem eindeutige rote Markierungen ins Couloir und somit Richtung Gletscher weisen (ca. 2 Stunden vom Gipfel, 8:30 Stunden von der Hütte).
Thomas Herdieckerhoff
Zunächst gehen wir auf einem schwach ausgeprägten Weg in Falllinie ins Couloir. Da wir die erste Seilschaft am heutigen Tag sind, müssen wir nicht zu sehr auf lose Steine achten. Sollten mehrere Seilschaften hier unterwegs sein, unbedingt sehr vorsichtig gehen.
Im Couloir halten wir uns nach kurzer Zeit links und folgen den Markierungen in den linken Teil der Rinne, der in Richtung Gletscher abfällt. Kurz vor dem Gletscher hat man nochmal die Wahl: Entweder in der Rinne im losen Geröll gehen oder auf einer markanten Rippe rechts hinausziehen und von dort abseilen. Wir entscheiden uns für Letzteres und seilen an einem Abseilstand mit zwei Haken und Kette wieder hinunter ins Couloir.
Von hier quert man einfach zum Beginn des Schneefelds. Auf dem Firn hinunter bis links das Geröll folgt, welches man bereits morgens im Aufstieg unter den Schuhen hatte. Wir erreichen kurze Zeit später unser Materialdepot und präparieren uns wieder für den Gletscher.
Die Überschreitung zur Hochstubaihütte
Nun geht es in unserem Fall dem Wütenkarsattel zu. Wer nach der Überschreitung nicht den Übergang zur Hochstubaihütte wählt, sondern zur Amberger Hütte zurück absteigt, der folgt dem Sulztalferner talauswärts.
Thomas Herdieckerhoff
In ca. 45 Minuten erreichen wir den Sattel (10 Stunden von der Hütte inklusive Pausen). Hier empfiehlt es sich, bei spätsommerlicher Ausaperung die Steigeisen abzulegen, da auf der anderen Seite noch ein felsiger Abstieg zum Wütenkarferner folgt. Nachdem man einen kleinen See passiert, steigt man zwar relativ simpel, aber doch noch einmal Konzentration erfordernd auf den Wütenkarferner ab. Hier hat der Klimawandel seine Spuren hinterlassen. Denn wir sehen, dass der Abstieg leider jedes Jahr länger wird.
Bei der Traversierung des Wütenkarferners halten wir uns eher weiter oben, um im Linksbogen eine Spaltenzone zu umgehen. Ein paar Mal steckt dann das Bein aber doch bis zum Knie drin, wenn die Schneeauflage unserem Gewicht nachgibt und sich kleinere Spalten darunter verbergen. Wir queren ohne merklichen Höhenverlust am Einschnitt rechts von der Hochstubaihütte dann hinaus auf das Geröll und zum Wanderweg.
Als wir die Felsen erreichen, zeigt die Uhr elfeinhalb Stunden – inklusive Pausen ab der Amberger Hütte. Glücklich und erschöpft legen wir die Steigeisen ab und laufen die letzten Meter hinauf zur Hochstubaihütte. Was für eine Erleichterung! Eine sehr lange, aber landschaftlich enorm reizvolle Tour liegt hinter uns. Spektakuläre Tiefblicke und Kletterei im besten Fels belohnen alle Mühen und die Anstrengung. Die Wilde Leck war atemberaubend!
Am folgenden Tag besteigen wir von der Hochstubaihütte aus noch die Warenkarseitenspitze und den Windacher Daunkogel – zwei lohnenswerte Dreitausender, welche man auf teilweise markierten Steigen mit Passagen im II. Grad von der Hütte aus erreichen kann, bevor man den Weg über den Hüttenweg über die Kleblealm ins Tal nach Sölden einschlägt.
Die Wilde Leck: Alle Fakten im Überblick
- Anforderung: Sehr lange Tour, welche hohe Ansprüche an Kondition und Konzentration stellt. Zwar kurze, aber dafür recht exponierte und alle Konzentration erfordernde Kletterei am Ende des Firngrats.
- Charakter: Kombinierte Hochtour mit alpiner Gratkletterei. Wunderschöne Landschaften zwischen Ötztal und Stubaital, hochalpines Flair und westalpenartige Kletterei in bestem Gneis.
- Risiken: Wer den II. Grad nicht seilfrei klettern kann und deutlich mehr absichert, der wird sehr lange brauchen. Die Zeitspanne zwischen Sonnenaufgang und Aufweichen des Gletschers am Nachmittag wird dann jedoch sehr klein. Beim Abstieg nicht in die Südwand steigen oder abseilen und im Couloir aufpassen, keine Steine loszutreten.
- Aufstieg: 1.580 Höhenmeter | ca. 7:30 Stunden
- Abstieg: 480 Höhenmeter | ca. 3:30 Stunden
- Exposition: Nord, Ost, Süd
- Schwierigkeit: Kletterei bis in den unteren vierten Grad. Der zweite Grad sollte seilfrei beherrscht werden, um zügiges Vorankommen zu sichern. Ein Abbruch ist kaum möglich!
- Equipment: Gletscherausrüstung, 4 Expressschlingen, 4 Bandschlingen, 60 Meter Seil, Standplatzschlinge
- Beste Jahreszeit: Juli bis September
Thomas Herdieckerhoff
Wilde Leck: Mein Fazit
Die Wilde Leck ist eine wunderbare Hochtour mit alpinem Charakter. Die Kletterei im Gneis hat Westalpencharakter und durch gelegentliche Exposition mit grandiosem Panorama kommt „Chamonix-Feeling“ auf. Wer mehr mobile Absicherung wünscht, der sollte weitere Expressschlingen, genügend Schlingen und eventuell Friends mittlerer Größe mitführen. Außerdem ist ein früher Aufbruch Pflicht, wenn man nicht in die Nacht kommen möchte. Der Sulztalferner und der Wütenkarferner sind zwar an den Stellen, an denen man sie betritt, nicht besonders spaltig, jedoch kann auch ein Sturz in eine kleinere Spalte schmerzhaft sein. Im Abstieg kann man abwägen, ob und wie oft man abseilt. Wer jedoch jede eingerichtete Abseilstelle verwendet, der wird sicherlich eine weitere Stunde extra einplanen müssen.