Samstagmittag. Kolbenlifte. Oberammergau. „Ist das jetzt hier eigentlich lawinengefährlich?“ ruft ein Mann an der Bergstation des Kolbensattels. Zur Erklärung: Der Mann war schon oben, hat also den Aufstieg schon hinter sich gebracht und hat sich gerade auf die Abfahrt vorbereitet. Auf der Piste. An einem Tag mit Lawinenwarnstufe 1 unterhalb von 1.800 Metern.
Corona machts möglich: Pistenskifahrer werden zu Tourengehern
Löblich, dass er zumindest zu einem Zeitpunkt der Tour auf die Idee gekommen ist, die aktuelle Schnee- und Lawinensituation zu hinterfragen. Eher schwierig, das erst zu diesem Zeitpunkt zu tun. Und er war nicht der einzige, der in diesem Winter die Skitourenski mit der freudigen Naivität eines Zehnjährigen angeschnallt hat. Denn geschlossene Lifte haben Skifahrer und Skifahrerinnen nicht davon abgehalten auch im Corona-Winter ihrer Leidenschaft zu frönen. Ganz nach dem Motto: „Wenn mich die Lifte nicht auf den Berg bringen, dann mache ich es eben selbst.“
Und so wurden zahlreiche Skifahrer zu Neu-Skitourengehern. Die Ausrüstung ist schnell gekauft, das Ein- und Umstellen von Schuhen und Bindung nach ein paarmal gelernt und das An- und Abfellen bekommt man mit ein bisschen Übung auch recht schnell hin. Dann steht dem Erklimmen der umliegenden Berggipfel und still gelegten Skipisten nichts mehr im Weg.
Bergzeit
Außer vielleicht diese eine Sache, um die man sich bei der Bewegung auf sonst bestens präparierten Pisten und abgesicherten Skigebieten keine Sorge machen muss: die Sicherheit. Nicht nur die eigene, sondern auch die der anderen Wintersportler.
Tourengehen ist gleich abfahren können – oder?
Beim Skitourengehen gehört dabei für mich vor allem die Notwendigkeit dazu, sicher auf dem Ski zu stehen. Heißt: Ich kann problemlos aufsteigen, aber noch viel wichtiger: vor allem auch problemlos abfahren. Ohne meine eigene Gesundheit und die der anderen Wochenendsportler unnötig zu gefährden. Dazu zählt eine solide Skitechnik und die Möglichkeit auch auf zerfahrenen Pisten und wenn man sich im Gelände bewegt, vor allem auch im verspurten Schnee oder im Tiefschnee abzufahren.
Zu oft habe ich in diesem Winter und in den letzten Jahren beobachtet, dass Skifahrern und Skifahrerinnen der Angstschweiß bei der Abfahrt im Gesicht stand. Dass der nächste Schwung ihnen noch größeres Unbehagen bereitet als eine Begegnung mit dem Chef in der Sauna. Die Abfahrt auf der Skitour als Endgegner sozusagen. Dann lieber Ski abschnallen und laufen. Bitte was? Oh ja, alles schon gesehen! Und nicht nur auf der Piste, sondern mitten im Gelände. Im freien Skiraum. Dabei sollte es doch genau darum gehen. Um die Abfahrt.
Es geht um den Powder, der einem ins Gesicht staubt. Am besten so tief und fluffig, dass er einem für einen Moment den Atem raubt.
Das Prickeln der Schneekristalle auf der nackten Wange und die Ski, die sich surfbrett-gleich ihren Weg durch die verschneite Landschaft suchen. In diesem Winter nehme ich auch das Gefühl der Skikanten, die sich in die Piste fräsen. Alles fein, denn die Abfahrt steht bei mir im Vordergrund. Und auch wenn das bei Dir nicht so ist und Du gleichermaßen gerne aufsteigst wie abfährst, habe ich dafür vollstes Verständnis. Doch trotz der Bewegung an der frischen Luft und in der Natur, kann eine solide Skitechnik auch in gefährlichen Situationen Leben retten.
Tourengehen ohne Lawinenwissen ist ein No-Go
Denn die Skitechnik ist auf Skitour das eine, die Lawinenkunde und vor allem das Wissen, die Theorie in die Praxis umzusetzen, das andere. Im ersten Moment hört es sich vielleicht witzig an, wenn jemand am Gipfel ruft „Ist das hier lawinengefährlich?“, im zweiten Moment ist es eigentlich gar nicht mehr lustig. Auch wenn viele Leute in diesem Winter das Tourengehen für sich entdeckt haben, scheint die Lawinenkunde nicht dazu zu gehören. Und hier habe ich keinen lustigen Vergleich mehr, keinen Jerry-of-the-day-Moment. Hier wird das neue Corona-Hobby tatsächlich einfach gefährlich.
Bergzeit
Lawinenwissen kann ich hier in einer Kolumne nicht vermitteln. Das müssen mehrtägige Kurse im Gelände. Und vor allem das stetige Üben des erlernten Wissens. Denn der Lawinenkurs ist kein Führerschein, einmal mit 18 Jahren gemacht und danach Freifahrtschein bis ans Lebensende. Der Lawinenkurs sollte mehrmals wiederholt werden, die eigene Lawinenausrüstung sollte auch im Schlaf beherrscht werden und ganz grundlegende Fragen wie „Ist das hier lawinengefährlich?“ sollte ich mir nicht auf dem Gipfel, sondern mindestens am Tag vor der Tour stellen.
Versteh mich nicht falsch: Ich freue mich, dass so viele Menschen in diesem Winter das Skifahren nicht ganz aufgegeben haben und die Natur für sich entdecken wollen. Ich würde mich aber noch mehr freuen, wenn wir, wenn eh schon die Krankenhäuser überfüllt und an der Kapazitätsgrenze sind, unseren Lockdown-Verstand zusammenkratzen würden und uns nur soweit auf Ski in die Berge wagen würden wie es unsere Skitechnik und unser Lawinenwissen erlauben.