Lautes Glockengebimmel weckt mich. Ich beeile mich, meinen Schlafsack loszuwerden, krieche aus dem Zelt und da stehen sie, drei Walliser Schwarznasenschafe, vor der Kulisse des mächtigen Rosenlauigletschers. Dichte, gekräuselte Wolle aus langen, groben Fasern charakterisiert das Vlies dieser Schweizer Bergschafrasse mit den lustigen schwarzen Gesichtern. Etwa 40 Schwarznasenschafe und 60 Deutsche Merinolandschafe verbringen auf der Alp oberhalb der Rosenlauischlucht im Berner Oberland den Sommer. Ihr Besitzer, Schafbauer Heinz Brog, ist jedes Wochenende hier oben, um nach seinen Schafen zu sehen. Für zwei Tage sind wir zusammen mit Ortovox seine Gäste, um mehr über die Schafhaltung in der Schweiz und vor allem über die Verarbeitung der Wolle zu erfahren.
Rettung der Schweizer Wolle: Die Initiative Swisswool
Etwa 409.000 Schafe leben in der Schweiz. Bis vor wenigen Jahren war es aber noch wenig lukrativ für die Schweizer Schafbauern, ihre Wolle weiterzuverarbeiten bzw. weiterzuverkaufen. Da sich die grobe Schweizer Wolle wie die des Schwarznasenschafs oder des Walliser Landschafs im Unterschied beispielsweise zur feinen Merinowolle aus Neuseeland oder Australien nicht zur direkten Verwebung eignet, war sie auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig und die Preise dementsprechend niedrig. Als die Schweizer Regierung schließlich die Subventionen zur Weiterverarbeitung der Wolle in der Schweiz kürzte, drohte das Aus für die Schweizer Wollproduzenten. Schafwolle war lediglich ein Abfallprodukt der Schafzucht zur Fleischproduktion, das zum Großteil einfach weggeworfen oder verbrannt wurde.
Die Rettung der schweizerischen Wollproduktion kam 2009 in Form von Swisswool, einer Initiative, die sich für das Schweizer Bergbauerntum und die Erhaltung der regionalen Wirtschaft einsetzt. Es wurden Wollsammelstellen eingerichtet, wo die Bauern zweimal im Jahr nach der Schur ihre Wolle zu einem festgelegten und fairen Preis verkaufen können.
Vielfältige Nutzungsmöglichkeiten in Isolationsbekleidung und Gebäudedämmung
Heinz Brog hat bis vor einiger Zeit eine solche Sammelstelle für Wolle in der Schweiz geleitet. Heute bezeichnet er sich als Vermittler zwischen den Schweizer Schafbauern und der Initiative. „Wolle ist ein natürlicher Rohstoff, den man nutzen muss, anstatt ihn zu verbrennen“, erklärt er, während er das Fell seiner Schafe begutachtet. „Das Vlies schützt das Schaf vor Kälte und Hitze, es hat temperaturregulierende Eigenschaften, ist schmutz- und wasserabweisend und reinigt sich sogar selbst. Das sind nur einige der hervorragenden Eigenschaften von Wollfasern. Die Schurwolle arbeitet mit ihren Eigenschaften am Ende in der Bekleidung weiter.“
Die grobe Schweizer Wolle ist allerdings zu kratzig, um direkt auf der Haut getragen zu werden. Auch das Deutsche Merinolandschaf, was auf Heinz‘ Alm anzutreffen und in Europa weit verbreitet ist, hat ein eher grobes Vlies. Dieses ist im Gegensatz zu den feinen Wollfasern des neuseeländischen oder australischen Merinoschafs für den Einsatz in Baselayern und Funktionsunterwäsche ungeeignet. „Aber“, sagt der Wollspezialist, „jede Art von Wolle ist gut, es kommt nur darauf an, wofür man sie braucht!“ Die Wolle aus den Schweizer Alpen eignet sich zum Beispiel ideal als Isolationsmaterial. Das hat auch Swisswool erkannt, dessen aufgekaufte und weiterverarbeitete Schurwolle zum Beispiel in der Gebäudedämmung, in Matratzen und in Teppichen zum Einsatz kommt – oder aber als Isolationsfüllung in Bekleidung. In diesem Bereich ist Ortovox einer der Hauptpartner von Swisswool.
Aufwändige Verarbeitung der Schafwolle
Unten im Tal im Wollreich in Meiringen verarbeiten Heinz Brog und seine Familie selbst vier bis fünf Tonnen reine Schurwolle im Jahr. Der Kardmeister zeigt uns dort, wie aufwändig ein Schafwollbetrieb funktioniert. Zwei Mal im Jahr werden seine Schafe geschoren. Danach muss die Wolle zunächst gewaschen und mit einer Wollverfeinerungsmaschine bearbeitet werden, bevor es ans Auskämmen, Kardieren genannt, geht. Dabei entsteht ein sogenannter Vliesstoff, der durch einen speziellen Kunststoffzusatz aus Mais stabilisiert und reißfest gemacht wird – das ist wichtig, damit das Vlies, wenn es später als Isolation in die Jacke kommt, beim Waschen oder durch mechanische Beanspruchung zum Beispiel an den Ellbogen nicht reißt.
Obwohl die Schafe und der Wollbetrieb viel Zeit in Anspruch nehmen, macht Heinz diese Arbeit nicht hauptberuflich. In der Familie helfen alle mit. Seine Frau Ruth kümmert sich als Filzfachfrau um die Weiterverarbeitung der eigenen Schafwolle. Selbstgefärbte Schwarznasenschafwolle wird im Haslitaler Filzreich zu kreativen Produkten gestaltet. Besonders beliebt sind Sitzkissen und Filzhüte, die durch den Filzvorgang komplett wasser- und winddicht sind. Die etwas weniger kratzige Wolle der Merinolandschafe aus dem Rosenlaui kommt in Bettdecken und anderen Heimtextilien zum Einsatz, wo ihre feuchtigkeitsregulierenden und geruchsfreien Eigenschaften von Vorteil sind.
Schweizer Wolle isoliert in der Outdoorbekleidung von Ortovox
Ähnlich wie das Wollreich im Kleinen stellt auch Swisswool aus der gesammelten Schweizer Wolle im großen Stil Vliesstoffe her. Im Jahr 2013 kamen in den mehr als 22 Sammelstellen fast 400 Tonnen Schweizer Schafschurwolle zusammen, unter anderem aus dem Berner Oberland und dem Wallis. Neben dem Bereich der Gebäudedämmung, wo die Initiative eng mit dem Unternehmen Baur Vlies zusammenarbeitet, wird ein bedeutender Anteil der Wolle in Outdoorbekleidung eingesetzt. Bereits seit 2011 kooperiert Ortovox mit Swisswool und füttert mit der Schweizer Wolle unter anderem seine Isolationsjacken und Handschuhe. Dabei macht sich das deutsche Outdoorunternehmen die Wärmeeigenschaften und den Klimakomfort der Schafwolle zunutze und schafft so eine natürliche Alternative zu Daunen- oder Primaloft-Isolation. Produziert werden die Ortovox-Kollektionen mit Swisswool ausschließlich in Europa – von der Wollwäscherei in Belgien bis zur Weiterverarbeitung der fertigen Vliesbahnen in Ortovox-Produkte an verschiedenen europäischen Standorten.
Warum haben Wollprodukte ihren Preis?
Bis heute ist Wolle in der Schweiz ein Nebenprodukt der Fleischproduktion. Die hohen Preise für Schurwollprodukte sind gerechtfertigt, wen man sich vor Augen führt, was dahintersteckt. Der Verkauf ihrer Schafwolle ist für die Schweizer Bergbauern durch Swisswool wieder etwas rentabler geworden. Dennoch beträgt der durchschnittliche Wollpreis pro Kilogramm heute nur 1,2 Schweizer Franken (in den 1950er Jahren waren es noch zehn Franken), ein Schaf zu scheren kostet dagegen sechs Franken. So gesehen verdienen die Schweizer Bauern mit der Schafwolle noch immer kein Geld. Aber es ist für sie günstiger, ihre Wolle zu den Swisswool-Sammelstellen zu bringen und einen fairen Marktpreis dafür zu erhalten, als sie zu entsorgen, und auch bei Kleinstmengen bekommen sie das Geld in bar ausbezahlt. Der Erhalt dieses heimischen Rohstoffs wird somit gesichert und die Wolle sinnvoll genutzt, was für viele Bauern allein schon ein ideelles Anliegen ist. Außerdem können der von Swisswool angestoßene Prozess und die steigende Nachfrage nach Wollprodukten langfristig die Entlohnung der Bauern verbessern.
Heinz‘ Schafe verbringen übrigens den ganzen Sommer auf der Alm, nur im Winter geht es in den Stall. Sie sind wichtig für die Bergwiesen der Schweiz, denn sie erhalten die Biodiversität auf den Almen und an den Berghängen – betreiben also auf natürliche Art und Weise Kulturlandschaftspflege. „Die Herbstwolle nach einem Sommer auf den Almwiesen ist die Beste“, sagt ihr Besitzer. Dass die Schafe dort in ihrem Element sind, können wir bei unserem Alm-Besuch im Rosenlaui mit eigenen Augen sehen. Ihr Weidegebiet ist so weitläufig und reicht so weit hinauf, dass es gar nicht so leicht ist, sie von Nahem vor die Linse zu bekommen. So kann man den Satz unterstreichen, mit dem Heinz und Ruth Brog für ihre Schafwolle werben und der mit Sicherheit auch für die Produzenten der Schweizer Wolle von Swisswool gilt: „Sämtliche Wolle stammt von glücklichen Schafen aus dem Berner Oberland und dem Wallis.“